Logo FJDI

Obwohl das »Reallexikon für Antike und Christentum« mit einer ursprünglichen Auflage von 2.500 Exemplaren in jeder Universitätsbibliothek, in jedem altertumswissenschaftlichen Institut und auch in manchem Privathaushalt steht, hat es 75 Jahre gedauert, bis Spuren der nationalsozialistischen Ideologie in den ersten beiden Bänden und die Kontinuität von Autoren, die schon im »Dritten Reich« antijüdische Propaganda betrieben, zur Sprache kamen. Lange galt das RAC als Speerspitze der Neubesinnung auf das Abendland, das im humanistischen Sinn als Frucht eines Zusammenwachsens von griechisch-römischen und christlichen Traditionen verstanden wurde. Damit setzte man sich bewusst von Modellen ab, die germanische Traditionen zu Leitbildern der Gesellschaft erhoben hatten.

Anlass für die Beschäftigung mit den ersten beiden Bänden unter dem Aspekt »RAC und Nationalsozialismus« war die Vorbereitung der Digitalisierung des Lexikons. Als eine Mitarbeiterin des Verlags Anton Hiersemann (Stuttgart) auf deutliche Spuren nationalsozialistischen Gedankenguts in den ersten beiden Bänden und auf Autoren aufmerksam machte, die sich im »Dritten Reich« durch institutionelle Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie und ihren Organisationen, etwa durch Mitgliedschaft im Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, hervorgetan hatten, nahmen sich die Herausgeber sofort auf mehreren Sitzungen der Sache an und leiteten geeignete Maßnahmen ein, die nachfolgend skizziert werden sollen.

Große Teile des ersten und zweiten Bandes des RAC waren schon in der ersten Hälfte der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts, der Zeit vor dem Kriegsende, abgefasst worden. Dass die Verstrickung mit nationalsozialistischer Ideologie lange Zeit unbeachtet blieb, hat zum einen damit zu tun, dass das Interesse an der Frage der Beziehung von Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus lange Zeit begrenzt war, zum anderen, dass das nationalsozialistische Gedankengut im RAC nicht plakativ und polemisch, sondern eher subtil, ja manchmal unscheinbar daherkam. Es ist dabei ein durchaus erstaunliches Phänomen, dass ein Lexikon, das für den Neuanfang der Altertumswissenschaft nach dem Krieg stand, in deutlich höherem Maße, als man vermutete, von Autoren geprägt war, deren Affiliation mit dem Nationalsozialismus außer Zweifel steht. Vor diesem Hintergrund wünschenswert, aber auch unter finanziellen Gesichtspunkten unrealistisch, wäre eine Neufassung der ersten beiden Bände oder zumindest der Artikel, die nationalsozialistisches Gedankengut aufweisen, auch um dabei die von Gewichtung und Umfang her disproportionale Anlage mancher Artikel in den ersten beiden Bänden zu korrigieren.

Stattdessen hat die Mitherausgeberin, Frau Prof. Maren R. Niehoff, den Artikel *Antisemitismus, der besonders deutlich von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt ist, neugeschrieben und in einem Vorwort exemplarisch auf das Problem einer Affiliation der frühen RAC Bände mit dem Nationalsozialismus aufmerksam gemacht. Andere Artikel, deren Autoren ebenfalls antisemitischen Organisationen wie dem Eisenacher Institut angehörten, werden in der digitalen Fassung mit einem Link zu dem Artikel Antisemitismus markiert, so dass sie in einem kritischen Rahmen als zeithistorische Dokumente gewürdigt werden können.

Über die Neufassung des Artikels Antisemitismus hinaus haben die Herausgeber zudem folgende Maßnahmen beschlossen: Dem Band 31 wird das hier vorgelegte Vorwort vorangestellt, das auf die Kontaminierung der ersten Bände des Lexikons mit nationalsozialistischem und rassistischem Gedankengut aufmerksam macht. Daneben werden die Herausgeber eine internationale Tagung veranstalten, auf der das aufgearbeitete Material vorgestellt und das Verhältnis des RAC zum Nationalsozialismus innerhalb der Geschichte der Altertumswissenschaften und anderer Lexika dargestellt werden soll.

Weiterhin soll ein Promotionsstipendium eingeworben werden, das sich mit der Verstrickung des RAC mit der institutionell oder personell nationalsozialistisch geprägten Altertumswissenschaft beschäftigt. Dazu ist auch vorgesehen, ausländische Kolleginnen und Kollegen mit heranzuziehen, die in der Wissenschaftsgeschichte bzw. der Fachgeschichte der Altertumswissenschaften und der Theologie einschlägig ausgewiesen sind. Um das Lexikon für Studierende problemlos nutzbar zu halten, soll in der digitalen Version neben dem eigentlichen Corpus des Artikels immer ein Hinweis auf Entstehungs- und Veröffentlichungsjahr erscheinen. Bei den Lemmata, die nach gegenwärtigem Stand der Aufarbeitung in einer nationalsozialistischen und rassistischen Ideologie verwurzelt sind, wird in der digitalen Version der erwähnte Link auf das vorliegende Vorwort und den Artikel von Frau Niehoff zu finden sein.

Insgesamt wirft die Kontaminierung besonders von Teilen der ersten beiden Bände des RAC gegenwärtig mehr Fragen auf, als im Moment zu beantworten sind. Die Beschäftigung damit ist nicht nur historisch notwendig, sondern auch wissenschaftlich bedeutsam, weil sie am Beispiel eines wichtigen Lexikons ein lebhaftes Zeugnis von Kontinuität und Diskontinuität wissenschaftlicher Arbeit in der Beziehung zwischen dem Nationalsozialismus und der neuen Fixierung auf das Abendland darstellt. Es liegt nahe anzunehmen, dass das RAC hier exemplarisch für weite Teile der bundesrepublikanischen Geisteswissenschaften steht.

Die Herausgeber